Apfelgarten

Kondensationswasser tropft von drei Stellen am in die Decke eingelassenen Ventilationsschacht auf das schon mit Feuchtigkeit gesättigte, zusammengefaltete, schmutziggraue Putztuch, das, die drei Tropfstellen gerade abdeckend, zwischen dem Regal mit Dauerkonserven und der Waschzelle auf den Bodenfliesen liegt. Die kräftige Heizung gewinnt immer den Wettkampf mit der durch die Ventilation eindringenden, von Staub, Pollen und bestimmten atmosphärischen Giften gereinigten, kalten Außenluft: der Raum ist feucht aber warm. In der grünen Beleuchtung durch drei permanente Lichtzellen wirkt der Raum vernachläßigt, er wird offensichtlich nicht oft betreten und noch seltener aufgeräumt. Der Raum liegt am hinteren Ende des Versorgungstraktes im Keller des West-Apfelgarten-Gebäudes, eines von der Stadtverwaltung subventionierten Wohnblocks für Einkommensschwache, mitten im Lukanerviertel der Stadt Mont Skar auf dem Planeten Ux.

Noch vor wenigen Jahren wohnten hier ausschließlich Lukaner. Die Türschilder zeigen bunte lukanische Namenszeichen, in der Wiederaufbereitungsebene stapeln sich vor dem Verwertungsbecken leere Verpackungen der von Lukan importierten Lebensmittel neben zerfledderten, mit der aus verschiedenfarbigen Kreisen und Punkten bestehenden lukanischen Schrift bedruckten Zeitungen. Im Wohnblock riecht es ebenso wie im ganzen Viertel ein wenig säuerlich-würzig nach Pradi, den berühmten lukanischen Pfannkuchen.

Für den hinteren Raum im Versorgungstrakt des West-Apfelgarten-Gebäudes fühlt sich niemand richtig zuständig. Die Stadtverwaltung, der das Gebäude gehört, schickt einmal im Jahr einen Sozialarbeiter vorbei, der sich Beschwerden der Familien anhört und dabei auch den Zustand des Wohnblocks begutachtet. Ihn begleitet ein Techniker, der die Filter des Wasser- und Luftsystems erneuert, die Permazellen für Heizung und Licht überprüft und die Verwertungskulturen der Entsorgungsebene regeneriert. Ganz selten wird er bei dieser Arbeit so schmutzig, daß er eine sofortige Körperreinigung für nötig hält. Nur dann betritt er den hinteren Raum, um die Waschzelle zu benutzen.

Sonst steht der Raum eigentlich zur allgemeinen Verfügung. Seine Existenz beweist, daß das Gebäude entweder von einem Architekten entworfen wurde, der nichts von der lukanischen Kultur und Lebensweise verstand, oder anfangs gar nicht für Lukaner konzipiert war. Zu Gunsten des Architekten nehmen wir letzteres an, da das sehr alte Gebäude durchaus vor der großen Einwanderungswelle aus Lukan entstanden sein kann. Ein Lukaner würde im Keller eines Gebäudes niemals einen Raum für die Allgemeinheit einplanen. Im traditionellen lukanischen Wertesystem gehören soziale Kontakte zu den höheren Ebenen des Lebens, während die Individualität niedrig angesiedelt ist. Gemeinschaftsräume befinden sich daher immer oberhalb der Privaträume. Die Empfangssäle der lukanischen Regierung befinden sich im obersten Stockwerk des Xan-Gebäudes der Stadt Pul, das zugleich das höchste Gebäude des Planeten ist.

Der Raum wird also von den lukanischen Bewohnern des Hauses nicht benutzt. Vor einigen Jahren allerdings hat die Stadtregierung von Mont Skar ihre zuvor rigide Politik geändert, daß nur einkommensschwache Lukaner in den Genuß der günstigen Mieten des Apfelgarten-Projekts kommen können. Im Zeichen der Gleichbehandlung aller Minderheiten standen die Gebäude nun formal auch anderen benachteiligten Einwanderergruppen offen. Vereinzelt wohnen also auch Meltser, Lugoniden und Trachofamilien im West-Apfelgarten. Länger als einige Monate hat es aber keine dieser Gruppen hier gehalten. Zwar gab es nur ganz selten offene Feindschaft von den lukanischen Nachbarn, doch sicherlich auch keine Aufnahme in das enge soziale Gefüge, keine Rücksicht auf die Eigenarten und Bedürfnisse der neuen Einwanderer. In seiner kurzen Zeit hier hat einer der nicht-lukanischen Bewohner den Raum gelegentlich benutzt, das Regal aufgestellt und seine Dauerkonserven untergebracht, beim Auszug aber nicht mehr daran gedacht oder keinen Wert mehr darauf gelegt.

Das Kondenswasser tropft, das Putztuch ist naß. Der allgegenwärtige Pradiduft mischt sich hier unten mit einem ganz schwachen, fauligen Geruch von feuchter Erde. Das unregelmäßige Geräusch der Tropfen wird begleitet vom kaum hörbaren Summen der Versorgungsanlagen in den anderen Kellerräumen: dem Saugen der Vakuumpumpen, dem Zischen der Heizflüssigkeit, dem Mahlen des Entsorgungssystems.

Dieser Raum ist ein idealer Schlupfwinkel für jemanden, der in Mont Skar für eine Zeitlang untertauchen muß. Es gibt Luft, Wasser, Lebensmittel, viel Ruhe und keine Störung. Zum Schlafen braucht man nur eine Decke und ein Kissen. Glücklicherweise wissen davon nur sehr wenige.

Pordang war seit drei Tagen hier unten, achtete schon lange nicht mehr auf das Geräusch der Tropfen. Wenn sie schlafen wollte, störten sie allerdings noch immer die Lichtzellen, die sie aus Furcht, einen Sensor auszulösen, nicht zu zerschlagen wagte. Sie warf sich vor, beim hastigen Verschwinden aus ihrer Wohnung nicht an ihren Augenschutz gedacht zu haben, den sie sonst bei jedem Ausflug mit sich führte. Wie die meisten Lukaner war auch Pordang ausgesprochen lichtempfindlich. Auf Lukan werden daher kaum Perma-Lichtzellen verwendet, sondern nur die etwas teureren schaltbaren Lichtzellen. Trotz dieses Mangels schlief Pordang lieber hier unten schlecht als sich oben erwischen zu lassen.